Ungeklärter Polizistenmord – Warum waren kurz vor dem Anschlag mehrere Streifenwagen auf und an der Theresienwiese in Heilbronn?

Ungeklärter Polizistenmord – Warum waren kurz vor dem Anschlag mehrere Streifenwagen auf und an der Theresienwiese in Heilbronn?

Er ist vermutlich der Schlüssel zum gesamten NSU-Verbrechenskomplex: Mord Nummer zehn an der Polizeibeamtin Michèle Kiesewetter am 25. April 2007 auf dem Festplatz Theresienwiese in Heilbronn. Die Tat ist nicht aufgeklärt. Das Motiv ebenso. An der Behauptung der Bundesanwaltschaft, die Täter seien Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos gewesen, und nur sie, gibt es begründete Zweifel. Spuren führen auch in die Reihen der Polizei selber. Ihnen wird nicht nachgegangen. Mehrere Zeugen sahen in den 40 Minuten vor dem Anschlag an vier verschiedenen Stellen auf und an der Theresienwiese Streifenwagen der Polizei.

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Die beiden Opfer des Anschlages, Michèle Kiesewetter und ihr Kollege Martin Arnold, verbrachten die Mittagszeit ab 12:30 Uhr im Polizeirevier in Heilbronn. Um 13:45 Uhr brachen sie mit ihrem Wagen, einem 5er BMW, zur Fortsetzung ihres Streifendienstes auf. Es soll der einzige BMW gewesen sein, der an diesem Tag in Heilbronn im Einsatz war. Das Fahrzeug gehörte der BFE-Sondereinheit in Böblingen (Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit) und wurde unter anderem für den Objektschutz us-amerikanischer Einrichtungen eingesetzt. Kiesewetter und Arnold steuerten die Theresienwiese an, wo sie etwa zwei Stunden zuvor, um 11:30 Uhr, bereits Pause gemacht hatten. Warum sie erneut dort hinfuhren, ist unklar. Um13:55 Uhr kamen sie auf dem Festplatz an und parkten neben der Trafo- und Pumpstation. Um 13:58 Uhr fielen die zwei Schüsse, die Kiesewetter töteten und Arnold lebensgefährlich verletzten.

13:20 Uhr: Die erste protokollierte Beobachtung eines Streifenwagens vor der Tat in Tatortnähe. Der Zeuge W. ist mit seinem Auto auf dem Weg von Böckingen nach Heilbronn, überquert den Neckar und bemerkt linker Hand in Gegenrichtung am südlichen Rand der Theresienwiese auf dem Gehweg ein stehendes Polizeiauto. Als Marke erkennt er einen 5er BMW. Beamte sieht er nicht. Von einem zweiten Polizei-BMW ist bisher nirgendwo die Rede. Das Fahrzeug und seine Besatzung sind nicht identifiziert. Um wen es sich gehandelt haben könnte, ist unklar.

Zwischen 13:40 und 13:45 Uhr: Der Zeuge L., 16 Jahre alt, passiert zu Fuß auf dem Weg am nördlichen Rand die Theresienwiese. Neben dem Strom- und Pumphäuschen fällt ihm ein Polizeifahrzeug auf, das er als Kombi beschreibt. Nach seiner Erinnerung steht es mit der Vorderseite Richtung Neckar. Ob jemand drin saß, kann er nicht sagen.

13:45 Uhr: Der Zeuge K. passiert mit seinem Fahrrad dieselbe Stelle, das nördliche Ende der Theresienwiese. Er bemerkt ebenfalls einen Streifenwagen, allerdings nicht neben dem Häuschen, sondern etwas entfernt an der Böschung zum Radweg unter den Bäumen, vorwärts eingeparkt, ohne Besatzung. Also an anderer Stelle als der Zeuge L. Es könnte sich aber auch um dasselbe Auto gehandelt haben. Jedenfalls bestätigt jede Beobachtung die andere. Der oder die Streifenwagen, die die Zeugen L. und K. sahen, sind nicht identifiziert.

Um 13:52 oder 13:53 Uhr, das ergibt die Rekonstruktion, fährt der Zeuge R. aus Richtung Bahnhof kommend an der Theresienwiese vorbei über die Theresienstraße zur Otto-Konz-Brücke. Vor der Kreuzung Theresien-/Karlsruher Straße bemerkt er in der südlichen Einfahrt zum Festplatz ein Polizeifahrzeug. Fahrzeug Nummer vier, ebenfalls nicht identifiziert. An Beamte kann sich der Zeuge nicht erinnern. Es ist die zeitlich naheste Beobachtung zur Tat: fünf oder sechs Minuten später geschieht der Mord in etwa 150 Meter Entfernung. Die Zeugin W. sieht gegen 14 Uhr an genau der Kreuzung Theresien-/Karlsruher Straße einen heraneilenden untersetzten Mann, 1.70 bis 1.75 Meter groß, 30 bis 35 Jahre alt, dessen linke Körperseite blutverschmiert ist und der in ein wartendes Auto einsteigt. Wenn er einer der Täter war, muß er an der Stelle vorbeigerannt sein, wo Polizeiauto Nummer vier kurz vorher stand.

Es gibt weitere korrespondierende Aussagen von Zeugen, die beim Vorbeifahren auf oder an der Theresienwiese Polizeiwagen wahrgenommen haben wollen. So sieht gegen 13:45 Uhr der Zeuge M. einen Streifenwagen von der Otto-Konz-Brücke, also aus Richtung Böckingen, kommend nach links in die Theresienstraße einbiegen, die an der Theresienwiese entlang führt. Kiesewetter und Arnold konnten das nicht gewesen sein. Sie kamen später und sie kamen aus anderer Richtung. Möglicherweise eines der Fahrzeuge, die Zeugen auf der Theresienwiese sahen.

Mindestens drei, vielleicht sogar vier Polizeiautos vor dem Anschlag in unmittelbarer Tatortnähe. Verdächtig ist aber vor allem: keines ist identifiziert. Wer sie gefahren hat, läßt sich in den Ermittlungsakten nicht erkennen. Die Ermittler sind diesen Spuren nicht nachgegangen. Sie wurden nicht systematisiert. Es wurden nicht einmal Fragen dazu aufgeworfen. Eher scheint es, als seien die Beobachtungen der Zeugen im Aktenwerk gut versteckt und vergraben worden.

Haben die Ermittler in Heilbronn Spuren verwischt? Denn ungeklärt ist folgende Merkwürdigkeit: Am Tag vor der Tat, also am 24. April 2007, machte der Streifenbeamte Patrick H. zusammen mit seiner Kollegin Elke S., beide ebenfalls von der Bereitschaftspolizei Böblingen, auf der Theresienwiese Pause. In einer angeblichen ersten Vernehmung von H. durch die Kripo in Heilbronn im Juli 2007, soll der Beamte angegeben haben, am Tatort „noch nie Pause“ gemacht zu haben. Das bestreitet H. entschieden, als er Jahre später, im Oktober 2010, bei Nachermittlungen durch das LKA davon erfährt. Die angebliche Erstvernehmung ist ganz offensichtlich konstruiert und gefälscht. Nur von wem und warum? Um davon abzulenken, daß der Anschlag gezielt Michèle Kiesewetter galt? Denn, wenn Patrick H. und seine Kollegin am Tag vorher auf der Theresienwiese parkten, hätten gut auch sie diese „Zufallsopfer“ sein können, so wie die Bundesanwaltschaft den Überfall deutet. Haben die Täter also auf eine bestimmte Streife gewartet? Damit Kiesewetter aber als zufälliges Anschlagsziel erscheint, mußte die Streife vom Vortag aus der Welt geschafft werden. Das wiederum würde bedeuten, daß es in der heilbronner Kriminalpolizei ein Wissen um diesen Zusammenhang gab. Welcher Beamte hat die gefälschte Vernehmung von Patrick H. unterschrieben? Von H.s Kollegin S. liegt keine Vernehmung vor. Die Polizistin ist nach Thüringen versetzt worden. Auch sie eine wichtige Zeugin. Und noch ein Gedanke: Sollte der zweite Beamte der Streife, Martin Arnold, „geopfert“ werden, um zu verschleiern, daß der Mord speziell und einzig Kiesewetter galt?

Nicht weniger als 15 Beamte der Einheit aus Böblingen, zu der auch die Anschlagsopfer Kiesewetter und Arnold gehörten, waren am Tattag in Heilbronn. Warum so viele? Und warum tat fast die Hälfte ihren Dienst in Zivil? Gab es vielleicht Hinweise auf eine bevorstehende wie auch immer geartete Aktion? Und waren darin Beamte verwickelt?

Zwei notwendige Nachbemerkungen: Kriminaloberrat Axel Mögelin vom Landeskriminalamt (LKA) Baden-Württemberg sind diese Spuren bekannt. Er hat sie beim Ortstermin am 4. Mai 2015 in Heilbronn verschwiegen und damit den Untersuchungsausschuß und die Öffentlichkeit getäuscht. Doch auch dem Ausschuß selber waren diese Spuren bereits bekannt. Der Autor dieses Textes hat sie dem Gremium am 20. Februar vorgetragen. Die Abgeordneten waren also informiert genug, um den LKA-Vertreter nach diesen Spuren fragen zu können. Auch Ausschußmitglied Nikolaos Sakellariou, der neuerdings angibt, erst seit der Tatortbegehung am 4. Mai kundig genug zu sein, um kritische Fragen stellen zu können. Offensichtlich wollte er gar keine kritischen Fragen stellen. Was aber sucht ein Abgeordneter, der keine Fragen hat, in einem Untersuchungsausschuß?

Am 22. Mai will der Untersuchungsausschuß von Baden-Württemberg zwei Leiter der SoKo Parkplatz, die im Kiesewetter-Mord ermittelte, und den verantwortlichen Staatsanwalt von Heilbronn vernehmen.

Thomas Moser